Gedankenpfade
Ausgewiesen von
- Walter Lorenz, Aus Corona Lernen, 16.01.2022
- Georg Schedereit, Corona 2021, 15.01.2021
- Nicole Steiner, Zusammengewachsen, 29.07.2020
- Annett Weissenburger, im Atemhaus, 07.05.2020
- Ingo Stermann, Fides Coronaria, 25.04.2020
- Eva Kaufmann, gutenachricht.online, 17.04.2020
16.01.2022
aus der krise lernen - mit zuversicht in die zukunft
Prof. Dr. Walter Lorenz, Sozialwissenschaftler und Theologe, Prädikant unserer Gemeinde, beschreibt anhand von drei Beobachtungen zur Corona-Krise, wie daraus gelernt und Zuversicht für die Zukunft gezogen werden könnte . Den Vortrag hielt er im Rahmen von Forum Christuskirche am 16.1.22.
Aus der krise lernen - mit zuversicht in die zukunft
Die Krise dieser Pandemie hat potentiell epochale Auswirkungen und es könnte sein, dass sie im Rückblick einmal als eine Zeitenwende angesehen wird. Sie hat fundamentale Auswirkungen auf unser ökonomisches, politisches und natürlich auf unser soziales Leben. Dabei möchte ich nicht behaupten dass das Virus selbst diese Veränderungen auslöst. Vielmehr ist für mich die Pandemie der Katalysator, der bisher schon angelegte Krisenphänomene beschleunigt und deutlicher zutage treten lässt. Wenn wir schon in den letzten Jahrzehnten den schleichenden Verdacht hatten, dass uns bestimmte Errungenschaften der Moderne nicht mehr selbstverständlich sind und verlorenzugehen drohen, setzt nunmehr eine tiefgreifende Ernüchterung ein, dass in vieler Hinsicht der Verlust schon eingetreten ist.
So hatten wir als moderne Menschen Vertrauen in die Idee des Fortschritts. Wir lebten mit der Erwartung, Dinge allmählich in den Griff zu bekommen, die zuvor als Schicksalsschläge hingenommen werden mussten, wie etwa Krankheiten, als ob es nur eine Frage der Zeit wäre, bis etwa Krebs, Alzheimer Krankheit, Geburtsfehler „besiegt“ werden könnten. Wir waren etwas besorgt um die Umwelt, aber dachten, dass wir mit ein bisschen Achtsamkeit friedlich mit der Natur leben könnten. Wir hatten zögerndes aber doch optimistisches Vertrauen in die guten Absichten der Politik, schöpften Hoffnung aus dem Fall der Berliner Mauer auf einen dauerhaften Frieden, wir begrüßten die Erweiterung der Europäischen Union und erwarteten deren stetes Wachstum als einen endgültigen Abschied von der Engstirnigkeit und Gefahr des Nationaldenkens. Wir hatten die Hoffnung, dass die Wirtschaft sich einigermaßen stabil entwickeln würde, dass technologische Errungenschaften neue Arbeitsplätze schaffen würden, dass vielleicht sogar die Kluft zwischen Arm und Reich sich verringern würde, dass sich unsere Einzahlungen in Pensionsfunds im Alter auszahlen würden. Wir hatten Vertrauen in ein sich stetig verbesserndes Gesundheitssystem, das uns die Vorsorge für mögliche Krankheiten und die rasche Hilfe bei Krankheiten ermöglichen würde. Wir waren – vielleicht zögernd – begeistert von den neuen Mobiltelephonen, die uns leichter erreichbar machten und dadurch unsere sozialen Kontakte ergänzten und erweiterten. Wir hatten eine Ahnung davon, dass uns das Internet schneller Informationen liefern könnte, mit deren Hilfe wir einen klareren Einblick in die uns interessierenden Wissensbereiche gewinnen könnten.
Ich denke, Sie teilen mit mir bei diesem Rückblick das Gefühl der Skepsis angesichts der Themen, die heute unseren Alltag dominieren. Das Gesundheitswesen ist in Krise, vor allem weil es angesichts dauernder Einsparmaßnahmen nicht auf eine Pandemie vorbereitet war, die Politik stellt sich zeitweise sehr hilflos und verliert zusehends an öffentlichem Vertrauen, die EU ist in Krise, und dies nicht nur aufgrund von Brexit, in den meisten Staaten regen sich nationalistische und rechtsradikale Parteien und gewinnen an Einfluss, und vor allem ist die Kluft zwischen Armut und Reichtum ins Unvorstellbare gewachsen.
Wir können in der Pandemie ein Brennglas erkennen, das die Tendenzen auf all diesen Bereichen bündelt mit bedrohlicher Intensität.
Mein Auftrag hier ist es aber, tiefer in das Wesen dieser Krise zu schauen um daraus Möglichkeiten zu erkennen, wie wir Wege aus der Krise finden könnten oder wie die Krise uns zumindest auf die Werte und Ziele aufmerksam macht, auf die unser Zusammenleben sich eigentlich gründet und aus denen wir wieder Visionen für die Zukunft ableiten können.
Dabei möchte ich anknüpfen an den zentralen Merkmalen, die die Krise für mich charakterisieren und die jeweils Herausforderungen darstellen, auf die wir nun unausweichlich reagieren müssen.
Ich habe schon zu Beginn der Pandemie einen Roman wieder gelesen, der mich einmal in der Jugend sehr fasziniert hat, aber damals eher aus intellektuellen Motiven. Das ist der Roman „Die Pest“ vom französischen Existentialisten Albert Camus, den vielleicht einige von Ihnen auch gelesen oder wieder vorgenommen haben wegen der verblüffenden Parallelen zu unserer Situation und der Aktualität seines Themas für uns heute. Es handelt sich um die fiktiven Erlebnisse eines Arztes, der getrennt von seiner Familie in einer Stadt seinen Dienst tut, in der eine seltsame, tödliche Krankheit sich allmählich und dann immer schneller verbreitet. Er beschreibt die Veränderungen, die den Menschen aufgezwungen wurden, um sich zu schützen und vor allem die Isolation, die sie erlebten, da die Stadt von der Außenwelt abgeriegelt wurde. Die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander wurden dadurch tief beeinträchtigt, der anfänglichen Skepsis über die Schwere der Epidemie folgten die Angst und die Suche nach Selbstschutz, und auch wenn die Pest am Ende sich ausgetobt hatte und die Normalität wieder eingetreten war, hatten die Ereignisse die Beziehungen der Menschen unter einander tief beeinflusst. Man wurde sich der Fragilität seiner Existenz bewusst, man konnte das Misstrauen nie ganz überwinden, ob man den anderen oder gar den Autoritäten trauen könnte, ob man sich wieder ohne Gefahr nach außen öffnen könnte. Man war auf sich selbst zurückgeworfen.
Ich möchte die Parallele zu unserer heutigen Situation nicht überziehen, sondern im Gegenteil eher darauf hinweisen, wie anders, und vor allem wie unvorhersehbar unsere gegenwärtige Pandemie verläuft, die eben nicht ein definitives Ende zu haben scheint, und wie gerade in diesem Unterschied eine Chance liegt, andere Schlussfolgerungen zu ziehen als es der Existentialismus vorschlägt und auch nicht diese einer unbedingten Rückkehr in die vorige „Normalität“.
Camus hatte seinen Roman unter dem unmittelbaren Eindruck des 2. Weltkriegs geschrieben und versucht, jener fundamentalen Verunsicherung und jenem immensen Leiden, das er verursacht hat, literarisch und philosophisch zu begegnen. Es wird sicher einige unter uns geben, die dieses Grauen des Kriegs selbst noch erlebt haben oder zumindest, wie ich, im Schatten dieser selbstgemachten Weltkatastrophe aufgewachsen sind. Ich will nicht sagen, dass die Corona Pandemie einen ähnlich Einschnitt in unser Leben und in unsere Geschichte erzeugen wird wie die Weltkriege, und es ist vielleicht nützlich, auf Parallelen und Unterschiede zur Nachkriegssituation im Einzelnen hinzuweisen. Eine Parallele ist, dass die Weltkriege ein globales Ereignis waren. Es gab kaum eine Region oder eine Menschengruppe, die nicht von den fürchterlichen Ereignissen betroffen gewesen wären, wenn auch manche direkter als andere. Die Kriegssituation bedeutete aber, dass man sich die Welt in Freund und Feind aufteilte, die Guten und die Bösen und damit auch eine Solidarität verband, für gut oder übel, die einen gewissen Schutz vor dem Leiden vermittelte. Dieses Operieren mit einem Feindbild versuchen manche auch heute wieder in der Corona Krise um damit die Schuld an der Pandemie auf ein Land oder auf eine Gruppe von Verschwörern zu legen. Jedoch ist das bei einer Krankheit nicht so einfach wie bei einem Krieg, den tatsächlich bestimmte Diktatoren und Nationen verursacht hatten (obwohl die Lage dann doch um einiges komplizierter gesehen werden muss – denn wer gab den Diktatoren die Macht?). Aber es ist bezeichnend, dass unmittelbar nach dem Krieg das gemeinsame Erleben des Leidens und des Kriegs dennoch eine gewisse Solidarisierung in der Welt hin zur besseren sozialen und politischen Absicherung hervorgerufen hat: Es wurden die Vereinten Nationen gegründet als eine Plattform, auf der Konflikte friedlich ausgehandelt werden sollten, und es wurden vor allem in vielen Ländern Maßnahmen getroffen, die die sozialen Spaltungen in der Gesellschaft überwinden helfen sollten. Der Sozialstaat, die soziale Absicherung der Bürgerinnen und Bürger in Notlagen, in Krankheit und im Alter durch den Staat, sind eine direkte Folge der Kriegserfahrung.
Das Virus heute ist eine völlig andere Art von „Feind“ und ist auch bei weitem nicht so tödlich und unbarmherzig, wie es die Kriegsmaschinerien der Völker im Krieg waren. Aber es ist daher vielleicht umso unheimlicher, da die Gefahr so unsichtbar ist und gewissermaßen von jedem Menschen, dem ich begegne, ausgehen könnte und wir daher sehr Acht geben müssen, dass wir uns nicht untereinander verfeinden, wie es schon mancherorts aussieht angesichts der Spaltungen, Proteste und des Misstrauens, die um sich greifen. Solidarisierungsbewegungen nehmen ungewöhnliche und ungeahnte Formen an.
Dennoch leite ich aus dem historischen Rückblick auf das Kriegserleben ab, dass es eine Sehnsucht nach Solidarität und sozialer Gerechtigkeit entfachte, dass vielen Menschen (bei weitem nicht allen) bewusst wurde, wie sinnlos, wie verheerend Spaltungen zwischen Menschengruppen sind und dass wir Anstrengungen unternehmen müssen, unsere Gemeinschaft und unsere Solidarität achtsam zu pflegen und nicht als selbstverständlich gegeben anzunehmen. So ist es für mich auch nicht verwunderlich, dass gerade während der Pandemie eine weltweite Bewegung gegen Rassismus wieder verstärkt aufgetreten ist nach der Ermordung des schwarzen Amerikaners George Floyd. Unrecht und Diskriminierung werden uns deutlicher bewusst. Auch die #metoo# Bewegung von Frauen gegen sexuelle Gewalt hat in diesem Kontext an Dringlichkeit und Sichtbarkeit zugenommen.
Ich möchte meine folgenden Überlegungen unter das Motto stellen, dass in Notsituationen die Abwesenheit eines menschlichen Guts, wie eben Gemeinschaft, Solidarität, Freiheit und Nähe, eine Sehnsucht erwecken kann, die diese Güter plötzlich wieder schätzen lässt, statt sie als selbstverständlich gegeben hinzunehmen, wie wir es vielleicht gewohnt waren. Ich will damit nicht sagen, dass es automatisch zu neuen, weltweiten Solidarisierungen kommen wird, weil wir alle von der Pandemie betroffen waren und nun, wie manche s darstellen, „alle im gleichen Boot sitzen“, was überhaupt nicht der Fall ist. Aber es gibt Anstöße, wie z.B. den Umweltgipfel in Glasgow und eine größere Dringlichkeit der Umweltthematik oder der Armut, die in diese Richtung weisen und dass Bemühungen um die Wahrung dieser Güter wieder neue Impulse erhalten haben. Darauf gründet sich mein Optimismus. Und durch eine Rückbesinnung auf die Bedeutung und die Wahrung dieser Güter gerade unter den Bedingungen der Pandemie lassen sich Richtlinien für die Umgestaltung unseres Umgangs mit Wirtschaft, Politik und auch Umwelt ableiten.
Ich möchte diese Sehnsucht nach der Gewinnung und Wahrung eines lebenswichtigen Guts an den folgenden Themen aufweisen, die uns die Pandemie vor Augen hält. In jedem Fall ist es der drohende Verlust eines Guts, das uns auf seine Kostbarkeit, aber auch auf seine Fragilität und damit auf unsere Verantwortung, richtig damit umzugehen, aufmerksam macht. Für mich sind es das Gut der persönlichen Nähe, der individuellen Freiheit, der Gemeinschaft und der Gewissheit.
Beginnen wir mit dem Gut, das uns am offensichtlichsten genommen wurde, dem Gut der unmittelbaren physischen menschlichen Nähe. Das Diktat der Hygiene und des Schutzes vor Ansteckungen hat unsere alltäglichen Gewohnheiten, wie wir uns grüßen, wie wir uns begegnen, ziemlich gründlich durcheinander gebracht. Das Gebot der Distanzierung hat tief in unser soziales Leben eingegriffen und man spürte es auch noch nach gewissen Lockerungen, wie wir uns immer noch nicht so recht wagen, die alten Gewohnheiten aufzugreifen: auch wenn wir mit einer Person ziemlich vertraut sind, schießt uns vor der Umarmung kurz der Gedanke durch den Kopf, könnte die Person nicht doch ansteckend sein, obwohl sie geimpft ist, obwohl ich sie gut kenne, obwohl ich selbst alle Vorschriften eingehalten habe.
Die Auswirkungen des Verbots körperlicher Nähe waren natürlich noch viel folgenreicher in Seniorenheimen und vor allem auf Intensivstationen in Krankenhäusern, wo Menschen sterben mussten ohne richtig Abschied von Angehörigen nehmen zu können und Angehörige ihrerseits gezwungen wurden, Abstand einzuhalten selbst in den letzten Augenblicken oder gar am Sarg. Natürlich waren diese Maßnahmen in vieler Hinsicht notwendig und zum Schutz gefährdeter Personengruppen gedacht, aber wenn sie mechanisch und rigide eingehalten wurden, ohne wenigstens den Versuch einer Vermittlung, waren diese Distanzierungsverordnungen oft einfach unmenschlich. Manche Einrichtungen versuchten dann auch, Ersatz für unmittelbare Nähe und Begegnungen zu schaffen, etwa durch Kontakte via Video oder smartphone, durch Treffen hinter Plexiglaswänden – aber oft wurden gerade solche Begegnungsformen als genauso schmerzlich wahrgenommen als die totale Trennung.
Ich denke angesichts dieser Entbehrungen wurde uns der Wert der physischen Nähe unmittelbarer bewusst als es im Alltag früher möglich war, als man noch bedenkenlos jemand die Hand oder die Wange reichen konnte zur Begrüßung. Wir wissen aus der Entwicklungspsychologie, dass Kleinkinder, denen körperliche Nähe mit den sie Pflegenden entzogen wird, tiefe psychologische Schäden erleiden, was darauf hinweist, dass wir ein elementares menschliches Bedürfnis haben, eine uns nahestehende Person zu spüren und nicht nur sie irgendwie wahrzunehmen.
Gleichzeitig aber ist in der Pandemie auch die Schattenseite der Nähe deutlich geworden: In vielen intimen Beziehungen ist es während der Isolation im eigenen privaten Bereich zu einem Anstieg an häuslicher Gewalt gekommen, wie Frauenhäuser berichten. Es treten in dieser Zeit auch immer mehr Frauen an die Öffentlichkeit mit Erfahrungen von unerwünschten Intimitäten am Arbeitsplatz, also Situationen, in denen körperliche Distanz nicht eingehalten wurde. Diese Enthüllungen weisen nicht nur auf eine verbreitete Erfahrung der Gewaltausübung durch Überlegene und Vorgesetzte hin, sondern auch auf die positive Seite der Einhaltung von Distanz. Nähe im Intimbereich darf nie als selbstverständlich hingenommen oder „erlitten“ werden, sondern wir alle haben sowohl Anspruch auf Nähe als auch das Recht auf die Grenzziehung um unseren Privatbereich zur Wahrung unserer persönlichen Integrität, und dies bei Erwachsenen wie bei Kindern.
Wenn ich daraus Schlussfolgerungen für die Zukunft ziehen möchte, geht es diesbezüglich nicht darum, nach den Pandemie wieder unbeschwert und gedankenlos Nähe zu zeigen oder gar einzufordern. Vielmehr sehe ich das Hoffnungsvolle gerade darin, dass wir uns genauer bewusst werden können, wann und in welchen Umständen Nähe gewünscht und in welchen Distanz angebracht ist, ob das in der Familie ist oder in Einrichtungen. Darüber muss aber offen geredet und verhandelt werden, und eine Klärung kann nicht durch verschärfte Regeln allein erreicht werden, da diese auch wieder negative Auswirkungen haben können. Und umgekehrt kann es nicht den Einzelnen überlassen bleiben, die jeweiligen Grenzen selbst zu ziehen und zu verteidigen ohne den Schutz durch Bestimmungen. Es geht um das wirksame Zusammenspiel beider Dimensionen, in dem unsere Chance liegt, angemessene Umgangsformen mit physischer Nähe zu finden.
Mit dem Thema der Nähe verbunden ist unmittelbar auch das Thema der Freiheit. Wir alle fühlten uns während der Pandemie in unserer persönlichen Freiheit unvorstellbar beeinträchtigt – wer hätte es für möglich gehalten, dass ein einfacher Spaziergang in Friedenszeiten und auf unserem Stand der Entwicklung von persönlichen Freiheiten zu einer heftigen Strafe führen könnte, wenn man dadurch die Quarantäneregeln missachtet hatte? Der weit verbreitete Protest gegen die Einschränkung der persönlichen Freiheit zeigt sich auch gerade jetzt in Bezug auf die Impfpflicht und es treten tatsächlich schwerwiegende Fragen bezüglich der grundsätzlichen Freiheit auf, wenn manche Personen einfach nicht mehr ihren Beruf ausüben können, weil sie sich nicht dem Impfzwang unterziehen möchten. Natürlich gibt es auch in dieser Hinsicht überzeugende Gründe, weshalb die Beschneidung unserer Freiheit notwendig war, aber auch diese notwendigen Einschränkungen gehen einher mit einem stärkeren Drang nach Freiheit. Dieser macht uns das Gut der Freiheit mehr schätzen als wir es vielleicht in den letzten Zeiten getan hatten. Es verweist uns vielleicht auch darauf, wie viele Menschen nicht in den Genuss von Freiheit kommen können, weil sie vielleicht tatsächlich im Gefängnis eingesperrt sind, oder auf Institutionen beschränkt leben müssen, oder sie etwa als Asylbewerber sich an einem Ort mit begrenztem Bewegungsradius aufhalten müssen. Fühlen wir uns diesen Personen gegenüber mehr solidarisch? Schätzen wir durch die Erfahrungen der Beschränkungen das Gut der Freiheit mehr?
Aber ähnlich wie mit dem Gut der Nähe hat auch das Gut der Freiheit seine Schattenseiten. Für manche bedeutet Freiheit völlige Unbeschränktheit, tun zu können, was immer einem beliebt, Freiheit als Rücksichtslosigkeit. Auch die wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte standen hauptsächlich unter dem Motto, dass die Aufhebung von Handelsbarrieren, aber auch die Privatisierung vormals öffentlicher Dienste den Menschen mehr Freiheit in der Form von Wahlmöglichkeiten geben würde. Uneingeschränkte Freiheit, für Unternehmer wie für Konsumenten, wurde zum Ideal und Programm erhoben. Aber die Pandemie zwingt uns, diese Dogmen des Neoliberalismus kritisch zu hinterfragen denn genau diese Freiheiten haben die Ungleichheit unter Menschen gesteigert.
Gerade im Hinblick auf die Auseinandersetzungen um Masken- und Impfpflicht meldet sich die Notwendigkeit, die Bedingungen der Freiheit näher in Betracht zu ziehen: Freiheit, wie Nähe, muss gestaltet und verantwortet werden. Wie uns bewusst wird sind Grenzen der Freiheit nicht unbedingt Einschränkungen der Freiheit, sondern die Bedingung für eine verantwortliche Ausübung der Freiheit. Freiheit kann man sich nicht einfach nehmen, ohne dass dies auf Kosten anderer gehen würde, sondern sie muss im Zusammenspiel mit anderen gestaltet werden, erst dann wird sie ein uns Menschen dienendes Gut. Ich würde mir wünschen, dass gerade die Auseinandersetzungen über die Grenzen der Beschränkungen, denen wir gegenwärtig ausgesetzt sind, produktiv geführt und genutzt werden, um unser Zusammenleben auch in Bezug auf Freiheit, auf ökonomischer wie auf politischer Ebene, neu zu gestalten und zu ermöglichen, auch das wäre für mich ein wünschenswerter „Corona-Bonus“.
Nähe und Freiheit, wie wir gesehen haben, sind nicht vom Individuum aus zu sehen, sondern haben ihre besondere Bedeutung für unser menschliches Zusammenleben dadurch, dass sie notwendige Gestaltungselemente von Gemeinschaft und sozialen Räumen sind. Das Gut der Gemeinschaft wurde uns auch durch die Pandemie deutlich vor Augen gehalten, indem wir merkten, wie sehr wir auf das Zusammenleben und das Zusammenwirken mit anderen angewiesen sind. Wir waren davon abhängig, dass nicht nur die essentiellen Dienste im Gesundheits- und Sozialwesen weiter funktionierten, sondern auch unsere Lebensmittel-, Energie- und Wasserversorgung, dass uns Post und Pakete noch erreichten, dass wir essentielle Lieferungen an die Türe bekommen konnten, entweder von bezahlten Dienstleistern oder von achtsamen Nachbarn oder Freunden. Wir waren dankbar, dass es soziale Netze in den digitalen Medien gibt, über die wir mit Verwandten und Freunden in Kontakt bleiben konnten, und überhaupt sah die Periode der Pandemie ein Erblühen solcher virtueller Gemeinschaften zu allen möglichen Interessen. All das erleichterte uns die Isolierung und das Gefühl der Einsamkeit und wiesen darauf hin, dass unsere menschliche Existenz auf soziale Gemeinschaft angewiesen ist.
Nun hat aber auch Gemeinschaft ihre Schattenseiten. Das fängt schon damit an, dass wir es alle als etwas unangenehm empfinden, ständig auf die Hilfe von Nachbarn angewiesen zu sein, auch wenn diese noch so sehr beteuern, wie gerne sie für uns einkaufen oder uns andere Dienste tun. Gemeinschaft kann auch zu einer Zwangsjacke werden, die uns ständig Anpassung abverlangt. Manchmal nehmen das Menschen gar nicht mehr wahr, etwa in Institutionen, in denen die Anpassung zur Routine wird, oder nun auch vor allem durch die virtuellen Gemeinschaften der Sozialen Medien. Die Gefahr dabei ist, dass Menschen in diesen hermetisch abgeschlossenen Gemeinschaften ihre Individualität verlieren oder sich nur noch unter Gleichgesinnten treffen, dass sie nur solche Informationen bekommen, die in eine Richtung gehen und die daher leicht manipulieren können, was man selbst denkt. Solche Gefahren weisen darauf hin, dass auch das Gut der Gemeinschaft seine Schattenseiten hat und es daher ganz darauf ankommt, wie Gemeinschaft gestaltet wird. Ein wesentliches Element von wahrer Gemeinschaft ist die Gegenseitigkeit, die der Abhängigkeit entgegensteht. Aber auch Reziprozität muss gestaltet werden, muss Anerkennung ausdrücken und kann nicht nur eine spontane Geste bleiben, und Reziprozität beinhaltet vor allem, dass Mitglieder einer Gemeinschaft unterschiedliche Meinungen, Lebensstile, individuelle Identitäten einbringen können oder gar müssen, um eine Gemeinschaft lebendig zu halten.
Vielleicht helfen die Erfahrungen der Corona Krise auch diesbezüglich, dass wir neu über das Wesen und die ausgewogenen Formen der Gemeinschaft nachdenken und die Chance wahrnehmen, die Gemeinschaften, in die wir uns eingebettet glauben als eine selbstverständliche – oder unausweichliche – Sache, neu zu gestalten und zu beleben, indem wir mehr auf Reziprozität und Diversität achten. Gemeinschaft ist nie einfach da und selbstverständlich; das Wertvolle an ihr ist die Gestaltung durch die Beteiligten, auch und gerade, wenn das Veränderungen in bestehenden Gemeinschaften auslöst.
Und am Ende möchte ich noch auf das Gut der Gewissheit zu sprechen kommen. Die Pandemie hat uns in unseren Gewissheiten fundamental erschüttert, wie wir es eigentlich nie für möglich gehalten hätten als moderne Menschen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die ersten Fernsehbilder vom Ausbruch der Epidemie in China, als man Menschen auf der Straße alle mit Gesichtsmasken umhergehen sah. Wir waren gewiss, dass es das nur dort geben könnte, dass wir die entsprechenden Mittel hätten, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, dass es so schnell wie möglich eine medizinische oder technische Lösung des Problems geben würde. Nach der ersten Welle waren wir dann schon etwas vorsichtiger mit unserer Gewissheit, dass nun alles wieder normal werden würde. Schließlich arbeitet man ja fieberhaft an Impfstoffen und wir wussten aus vergangenen Gesundheitskrisen, dass man diese „in Griff bekommen“ würde, wie man sagt. Aber nach einem Jahr weiterer Ungewissheit sieht es mit dem „in Griff bekommen“ schon anders aus und auch hier in Südtirol weiß niemand, wie viele Wellen uns noch bevorstehen. Von welcher Seite ist aber Gewissheit zu erwarten? Die Politiker beziehen sich auf die Wissenschaft und wir hören täglich Interviews mit Virologen, Epidemiologen, Statistikern und anderen Expertinnen, die ihre Einsichten über den möglichen Verlauf der Epidemie geben und wie man sich am besten schützen könnte – aber auch unter ihnen gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen und die Aufrichtigen unter ihnen geben nur hypothetische Prognosen. Auch auf wissenschaftlicher Ebene verkörpert das Virus einen hohen Grad der Ungewissheit, weil es sich in vieler Hinsicht um ein ganz neues Phänomen handelt.
Dazu kommt noch, dass wir oft unter den vielen Informationen, die wir durch die Medien und besonders die Sozialen Medien bekommen, nicht unterscheiden können, was sind wirkliche wissenschaftliche Erkenntnisse und was sind Erfindungen oder gar Lügen. Wir erleben unmittelbar die schädliche Wirkung von fake news. All das steigert nicht nur die Unsicherheit der Bevölkerung, wie sie sich verhalten sollte, sondern zersetzt das Vertrauen, das Expertinnen, aber eben auch Politikerinnen eigentlich sollten beanspruchen können. Statt offene Gemeinschaften zu bilden ziehen sich Menschen hinter zu quasi-religiös scheinenden „Sekten“ zurück, die Gewissheit in der Form von Verschwörungstheorien anbieten.
Aber auch hinsichtlich des Gutes der Gewissheit schöpfe ich Hoffnung aus den Erfahrungen der Pandemie. Wie bei den anderen Gütern, die ich aufgelistet habe, die Nähe, die Freiheit, die Gemeinschaft, ist auch die Gewissheit, die wir uns wünschen, nichts absolut Positives. Wir werden uns vielmehr bewusst, dass es im menschlichen Bereich, und nicht nur hier, eigentlich keine absolute Gewissheit geben kann, bzw. dass wir sogar äußerst skeptisch sein müssen gegenüber jeder Meinung, die sich mit den Attributen der absoluten Gewissheit brüstet. Wenn Wissen so absolut und unerschütterlich vorgetragen wird, gerade auch bei uns im wissenschaftlichen Bereich, in dem ich mich bewege, handelt es sich in jedem Fall nicht um Wissen, sondern um Dogmen und Ideologie, und wir lehren unseren Studentinnen, gerade diese immer kritisch zu hinterfragen.
Wie steht es dann also mit unserer Sehnsucht nach Gewissheit? Viele Menschen finden diese im Glauben, und dies ist auch für nicht-gläubige Menschen bedeutsam, denn gerade der Glaube enthüllt eine Dimension der Gewissheit, die im menschlichen Bereich unerlässlich ist: Gewissheit kommt uns erst durch Vertrauen entgegen, Gewissheit können wir uns nicht holen, sondern wird uns immer geschenkt. Und dies gilt vor allem im zwischenmenschlichen Bereich: Ich meine, statt nach absoluter Gewissheit zu streben ,sollten wir darauf achten, wie wir uns gegenseitig „vergewissern“, wie es im Deutschen so schön ausgedrückt wird, dass wir uns durch unsere Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit Vertrauen und damit eine besondere Art der Gewissheit zusprechen. Gewissheit kann nur etwas sein, das wir uns als Menschen gegenseitig ermöglichen, und das bedeutet, dass wir uns gegenseitig ermöglichen, mit Ungewissheit zu leben. Für mich persönlich ist diese Erkenntnis das säkulare, das zwischenmenschliche Äquivalent des Glaubens, denn der Glaube spricht absolute Gewissheit nur Gott zu, und wenn wir uns selbst absolute Gewissheit anmaßen, wollen wir uns zu Göttern machen – und es gibt leider viele führende Persönlichkeiten, die sich als Götter inszenieren und feiern lassen.
Darauf laufen also meine Hoffnung und mein Optimismus hinaus: Um uns gegenseitig besser Gewissheit, Nähe, Freiheit und Gemeinschaft schenken zu können, müssen wir das Soziale pflegen, müssen wir darauf Acht geben, wie unser soziales Zusammenleben trotz aller Barrieren und Spaltungen auf Gemeinschaft hin ausgerichtet werden kann, Gemeinschaft in der jede von uns dennoch Freiheit genießen kann, Gemeinschaft, in der Nähe in Sicherheit und unter Wahrung von Grenzen möglich wird. In dieser Hinsicht gibt es tatsächlich jetzt sehr viel zu tun in unseren Gesellschaften, denn ich meine, das Soziale wurde schon lange vor der Krise in vieler Hinsicht nicht nur vernachlässigt, sondern geradezu abgebaut. Wenn die Botschaft in den Schulen, in den Betrieben, im sozialen Zusammenleben vorwiegend die geworden ist, „mache etwas aus dir selbst, mach dich selbständig, erlange die extra Punkte, damit du vor den anderen liegst“, hat dies den sozialen Zusammenhalt tief geschwächt. Die soziale Distanzierung ist nicht erst durch die Pandemie entstanden, sie war schon lange im Gange.
Wenn wir den sozialen Zusammenhang pflegen auf eine Weise, dass er den Einzelnen genuine Nähe und ihnen gleichzeitig ihre individuelle Freiheit ermöglicht, dann gehen wir mit den Beschränkungen anders um. Vielleicht überwinden wir so nicht nur die Corona Krise, sondern stärken auch die Qualität unsres Lebens in vieler Hinsicht.
Camus lässt den Arzt seines Romans Die Pest seine Erfahrungen so zusammenfassen:
Es gibt keine Frage von Heldentum in all dem. Es ist eine Frage des gemeinsamen Anstands. Das ist eine Idee, die manche Menschen zum Lächeln bringt, aber das einzige Mittel, um eine Pest zu bekämpfen, ist der gemeinsame Anstand. (Camus: Die Pest)
15.01.2021
Corona 2021: es liegt an uns
Georg Schedereit aus Meran, ehemaliger Präsident der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien kommentiert in gewohnt pointiert Weise den Südtiroler Weg im Umgang mit der Corona-Pandemie. Der Artikel erschien bereits am 13.1.2021 im Sonntagsblatt der Diözese Bozen-Brixen und im Maiser Wochenblatt.
Corona 2021: es liegt an uns
Die Bewegungsfreiheit in ganz Südtirol ist super. Aber wenn wir, mit unseren rekordverdächtig hohen Covid-19 Fallzahlen, jetzt auch sonst unbedingt alles eiliger „öffnen“ wollen als fast alle anderen Europäer, dann könnte sich das womöglich als vorschnell erweisen.
Wir alle sehnen uns nach einer Abkürzung dieses Albtraums, womöglich auf einem „Sonderweg“. Nach Perspektiven, die uns nicht nur über die nächste Woche „retten“. Aber gegen die Wirklichkeit der neuartigsten und massenhaftesten aller Seuchen seit Menschengedenken ist bis zur erfolgreichen Impfung der meisten von uns (bis Jahresende 2021?) allem Anschein nach keine andere Rettung möglich als mit konsequenter Selbstdisziplin sprich strikter Einhaltung der AHAL-Regeln.
Nur unsere eigene „ganz normale“ Fahrlässigkeit diesbezüglich ist es, die das gemeingefährliche Virus in uns hineinläßt und andere damit ansteckt, meist ohne es zu merken. Deshalb sollten wir aufhören, uns in solchen Zusammenhängen ständig aufzuregen über Rom oder Bozen oder Brüssel oder sonstwen, den wir „schuldig“ sprechen für unsere mehr alsmißliche Lage.
In der Pandemie bestätigt sich: niemand auf dieser Welt ist allmächtig, alleinverantwortlich oder fehlerlos, weder in Washington noch in London, Paris, Madrid, Berlin, Rom, Wien - und in Peking, Moskau und anderen Diktaturen auch nicht.
Blicken wir also nicht dauernd nur wie gebannt voll Ärger nach Rom oder Bozen; die sind eben auch nicht allmächtig, alleinverantwortlich oder fehlerlos.
Seien wir stattdessen so grenzüberschreitend neu- und lernbegierig wie möglich: Wie schaffen das nur jene demokratischen Rechtsstaaten Asiens, die die Pandemie bereits seit einem Jahr am weitaus konsequentesten und am erfolgreichsten bekämpfen?
Taiwan, Neuseeland, Japan und Südkorea. Deren Bürgerinnen und Bürger überraschen und beschämen uns allem Anschein nach nicht nur mit freiwilliger Folgsamkeit, sondern noch mehr mit überzeugtem Gemeinsinn und entsprechender Selbstdisziplin.
Bei uns in Europa vergessen wir zu oft, dass nicht irgendjemand vermeintlich Mächtiger hauptverantwortlich ist dafür, inwieweit wir selber willens und imstande sind, die wenigen lebenswichtigen Hausverstands-Regeln zur Vorbeugung gegen das Virus wenigstens ein Jahr lang beharrlich durchzuhalten.
Hygienemasken tragen so wie Chirurgen und Pflegepersonal fast den ganzen Tag; ein bisschen Abstand von Nichtmitbewohnern halten; hin und wieder für frische Luft sorgen - das ist doch keine Folter!
Das ist doch nicht schwieriger als sich z.B. im Auto und Flugzeug anzugurten, oder beim Schifahren, Radeln und Motorradfahren einen Helm aufzusetzen, oder? Angesichts wichtiger Verkehrsregeln fragt man sich ja auch nicht angst und bang: was macht das mit den Menschen? Es macht, dass sie überleben können.
Ich finde Beständigkeit beim Einhalten und Einfordern von ein paar vernünftigen Hausverstandsregeln unvergleichlich einleuchtender, und auch einfacher, als das ständige verkrampfte Suchen nach irgendwelchen Schuldigen, sprich Ausflüchten für unsere ureigenen persönlichen Unterlassungen..
Seit einem Jahr Tag für Tag Wesentliches hierzu dazuzulernen, von Corona-Fachleuten aus aller Welt, diesen „Forschungskrimi“ zu verfolgen, das ist für mich erhellender, realitätsnäher und spannender als jeden Fernsehkrimi. Und sowohl nützlicher als auch aufbauender als jede Panik und jedes Hadern mit unserem Schicksal.
Nationale und regionale Sonderweg-Komplikationen sind verwirrend und schwer nachvollziehbar für die Menschen. Europas angesehenste Epidemiologen und sonstige Experten betonen das Gegenteil: die Dringlichkeit von transnationaler Geschlossenheit und Entschlossenheit im Kampf gegen die Pandemie: genauso grenzenlos wie diese, bitte!
Das Fazit der Fachleute verstehe ich so: wenn ein Südtiroler „Sonderweg“ nicht nur autonomie-symbolisch, sondern auch epidemiologisch herzeigbar sein soll, auch als Auslöser eines umso nachhaltigereren Wiederaufschwungs gerade im Tourismus, dann nur mit einer radikalen Senkung der 7-Tage-Inzidenz Richtung unter 50 und der Zahl der Toten an/mit Corona Richtung null.
Andernfalls wird auch 2021 ein weiteres verstörendes bis niederschmetterndes Jahr, mit einem Lockdown nach dem anderen, mit nur kurzen Illusionspausen dazwischen.
Zur Senkung unserer miserablen Zahlen kommen wir also einfach nicht vorbei am Primat der persönlichen Vorbeuge-Verantwortung von uns allen. Georg Schedereit
29.07.2020
Zusammengewachsen
Nicole Steiner, Bozner Gemeindeglied und zugleich Pressesprecherin der ELKI beschreibt, was sich die ELKI und ihre Gemeinden in der Zeit des Corona-Lockdowns haben einfallen lassen, um trotz sozialer Distanzierung Nähe zu halten.
Zusammengewachsen
Die Kirchen geschlossen, das Pfarramt nur telefonisch erreichbar. Die Menschen in ihren Häusern, Wohnungen in Quarantäne, der Radius eines jeden mit wenigen Ausnahmen auf 200 Meter um den Wohnsitz begrenzt. Seelsorge nur auf Distanz, virtuell. Eine Herausforderung sondergleichen, gerade auch für eine Kirche, die ihre Aufgabe nicht nur in der Verkündung des Evangeliums, sondern im Leben mit ihren Gemeinden sieht. Die Covid-19-Pandemie hat viele Menschen auf eine harte Probe gestellt. Hat andererseits aber auch Reserven und Kreativität aktiviert, die nicht nur die Anderen sondern auch uns selbst durchaus überrascht haben.
Die Pfarrer der 15 ELKI-Gemeinden sind es gewöhnt, ihre „Schäfchen“ weit verstreut zu haben. Eine große Herausforderung für den „guten Hirten“ auch in normalen Zeiten. Während der zwei Monate der sozialen Distanzierung haben viele Pfarrer Initiativen ergriffen, die sich auch in der Post-Quarantäne-Zeit bewähren. Video-Gottesdienste, tägliche Ansprachen via Whatsapp, ein tägliches Wort aus der Quarantäne auf der Homepage der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien, Balkon-Gedanken, Video-Grüße…
Die Botschaften an die Gemeindeglieder waren dabei nicht unbedingt nur theologischer Natur oder Ausdruck der tiefen Betroffenheit über die Auswirkungen dieser Pandemie. Einige Pfarrer und Pfarrerinnen teilten auch ihre ganz persönlichen Strategien zum Überwinden dieser sozialen Distanzierung mit ihren Gemeinden oder machten Vorschläge, wie man seine Tage dennoch erfüllend gestalten könnte. Tanzstunden auf dem Balkon, Anleitungen für Spiele, Lesetipps und vieles andere mehr. Nicht wenige dieser Aktivitäten reichten auch über die Grenzen der eigenen Gemeinden hinaus.
Im Dekanat liefen die Fäden zumindest virtuell zusammen, die Leiterin des Dekanats, Alexandra Damm, garantierte vor Ort die Ansprechbarkeit der Kirche, die anderen Mitarbeiterinnen waren im Home-Office. Das Konsistorium tagte online und die Pfarrer trafen sich in regelmäßigen Abständen zur virtuellen Pfarr-Konferenz auf Zoom. Notlösungen, die sich bewährt haben und die auch in Zukunft weitergeführt werden. Der Vorteil: Nähe und Austausch von Angesicht zu Angesicht, aber ohne Zeitverlust durch lange Anreisen und gleichzeitig ein konkreter Beitrag zum Umweltschutz.
Kirche ganz anders also, aber genau dort, wo sie hingehört: bei den Menschen.
07.05.2020
Im Atemhaus
Die Andacht, die Annett Weissenburger in der letzten Kirchenvorstandssitzung vom 7. Mai gehalten hat, hat uns bereichert und soll deshalb auch allen anderen hiermit zugänglich gemacht werden ...
im Atemhaus
Das Gesicht hinter einem Stückchen Stoff
oder Flies halb verborgen
Atem holen
Das Ding- nach Anleitung selbst genäht – rutscht
die Brille beschlägt
In der Schlange wartend
schaue ich mir die anderen mit ihren
selbstgebastelten sogar gehäkelten Modellen an
Und doch bin ich froh
wenn ich das Ding bald wieder runter ziehen kann
Ahhh Luft
Atemnot- Atemmaske-
Beatmung- Beatmungsgerät
Worte die nach Beengtheit klingen
nach Angst es könnte knapp werden
Angst auch vor dem Tod
Wie schön ein Gedicht zu finden, das so befreiend klingt wie folgendes.
Geschrieben von der Lyrikerin Rose Ausländer.
Im Atemhaus (1981)
Unsichtbare Brücken spannen
von dir zu Menschen und Dingen
von der Luft zu deinem Atem
Mit Blumen sprechen
wie mit Menschen
die du liebst
Im Atemhaus wohnen
eine Menschenblumenzeit
25.04.2020
Fides coronaria
Der Titel weist zweifelsfrei auf Ingo Stermann hin, Psychiater und ehemaliger Vizekurator unserer Gemeinde, der gewohnt mit spitzer Feder und großem Gedankenfundus um die (biblische) Ecke denkt ...
FIDES CORONARIA
Die COVID-19-Pandemie ist nicht die erste und nicht die schlimmste Pandemie:
- Die erste Pest-Epidemie war tödlicher und zumindest für unseren Kontinent auszehrender,
- die spanische Grippe geißelte die schon ausgepumpte europäische Bevölkerung schlimmer,
- die Grippe-Epidemien, die die Europäer nach Südamerika trugen, rafften die dortige indigene Bevölkerung hin,
- die Masern-Epidemien in Afrika löschen die jüngsten Generationen und die ihrer Eltern aus.
Und die Behelfe, di wir hier und heute schon haben, die Ressourcen, die wir zuziehen und nutzen können, die Erkenntnisse und Erfindungen, die wir gewinnen werden und nutzen können, sind sicher jetzt schon weitergehend als alles, was die vor uns Betroffenen aufbieten konnten, als greifbaren Trost erhielten und als konkrete Hoffnung ins Auge fassen konnten. Wir haben sicher Anlaß zu klagen, aber nicht, daß es uns schlimmer erwischt als andere Menschen und Völker an anderen Orten und zu anderen Zeiten.
Aber schauen wir ein bißchen genauer hin, was uns (wie Anderen zuvor) geschieht und zu schaffen macht: Die Pandemie zwingt uns zu einem inhumanen Verhalten, nämlich zum Verzicht auf den mitmenschlichen Kontakt im Nahbereich des Sehens, Fühlens, Greifens. In der Allgegenwart der elektronischen Kommunikations- und Beschaffungstechnologien, die uns jetzt soviel helfen, machen sie uns doch auf paradoxe Weise BEGREIFLICH, was ihnen fehlt, was sie nicht leisten, worin sie dem unmittelbar mitmenschlichen Sein und Umgang nicht das Wasser reichen können.
Spürbar wird auch, was die Globalisierung des Kommerzes, der Arbeitsorganisation, der individuellen Freizeitgestaltung und der dafür aufzubietenden Logistik bei allen unabweisbaren Vorteilen auch an Schwachstellen, an komplizierten und leicht störbaren Rahmenbedingungen aufweist, so daß man sie nicht verabsolutieren darf: Auch Kommerz, Touristik, Individuation in planetarer Freizügigkeit brau-chen als Gegengewicht das menschliche Maß des Handschlag, des Miteinander-Umgehens, des Zu-Fuß-Erreichbaren. .
Erkennbar wird auch einmal wieder,
- wie nicht die großen Bedrohungen und Sünden allein: von Kometeneinschlägen über Vulkanausbrüche bis hin zu menschenverbrochenen Umweltverände-rungen oder Kriegen,
- sondern im Gegenteil kleinste und älteste Lebensformen unsere biologische Existenz im Kern und auf dem gesamten Erdball gleichermaßen elementar wie total aus dem Gleichgewicht bringen können,
- und zwar nicht nur in unseren einzelnen Lebensweisen sondern als Species, als Menschheit.
Das alles betrifft -und auch das ist uns nicht mehr selbstverständlich- unsere spirituelle Existenz, und zwar genau da, wo es um UNSER Glauben geht: Wieviel ist das kollektive Glauben wert, wenn wir uns nicht treffen und begegnen können, wenn Ostern „ausfällt“ wegen Kontaktsperre: drei Jünger auf dem Weg nach …? Nicht zu denken auf Bozens Straßen.
Was bleibt von den Kirchen als Gebäuden, als Gemeinden, als Religionen übrig? Ein Papst im Regen. Wie geht konfessionelles Glauben in Covid-Zeiten? In Zeiten einer coronarischen Verkettung der Schicksale und erstickenden Vereinzelung der Gläubigen. Was sich andeutet: ein Gefühl des Mangels, vielleicht so etwas wie ein Bedürfnis. Gar eine Sehnsucht?
Und wie lesen wir die Bibel? Wer hätte das gedacht, daß wir in unserer seßhaft und steingewordenen laienhaften wie professionellen Gläubigkeit so heraus-, besser: hineingefordert werden in den Kern dessen, was wir für Glauben hielten:
- engstes Beieinander um ein Kind in einem Stall,
- festliches Treffen im Tempel,
- händische Taufe im Jordan,
- Beerdigung und Wiedererweckung von Totgeglaubten im Kreis der Hinterbliebenen,
- Bergpredigt mit tausenden versammelten Menschen,
- jede Menge Jünger in einem Boot,
- das letzte Abendmahl von zwölf Menschen und einem Menschensohn an einem Tisch,
- Massenauflauf unter einem Kreuz,
- Pfingstwunder der kollektiven Erleuchtung.
Wie mutet uns das an in Zeiten der vernünftigen, lebenerhaltenden Isolation? Auf welche Bilder, Gleichnisse, heiligmäßige Ikonen hin orientiert sich unser sinn-fälliges(sic!) Glauben?
Und im Gegenteil: Wie geht’s uns mit den am schwersten einfühlbaren Einsamkeitsszenen:
- der flüchtige vogelfreie Kain,
- einsame nächtliche Träumer von Jakob bis Josef,
- Moses vor dem brennenden Dornbusch, auf dem Berg Sinai,
- Jesus in der Wüste,
- „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“,
- die Einsamkeit des Judas im Selbstmord,
- „Hier steh ich , ich kann nicht anders“,
- Bonhoeffer in der Todeszelle,
- mein oder dein Abscheiden und dem Tod entgegengleiten.
Mitten im 21. Jahrhundert wird aus dem Quasi-Nichts einer in Nanometern meßbaren viralen Gegebenheit für jeden Menschen wieder fühlbar, was unsere conditio humana ist, was wir auch mit unserem Bruder Covid teilen: Geschöpf zu sein.
Und dann tönt leise die Stimme von Selma Lagerlöf in das globale Gewisper der Twitter- und Whatsapp-Nachrichten und das schillernde Blendwerk der TV-Bilder hinein: Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Wohl allen, die das wieder glauben lernen wollen.
***
Warum suche ich überhaupt den Nächsten, die Gruppe, wenn es in mir mit Glaubensfragen, -zweifeln, -hoffnungen anhebt?
Vielleicht, weil es mir meistens bei Situationen und Gedanken passiert, in denen es „ums Eingemachte“, „ums Ganze“, „zur Sache“ geht, und ich rechts und links nicht mehr ausstellen kann. Ohne freie Wahl. An die Wand gedrückt. Jetzt mach mal! Da bin ich bei mir, in mir, mit mir allein und kriege Angst.
Ich kenne das mein Leben lang, vielleicht bin ich ja ein ängstlicher Typ. In Trennungssituationen oder im Streit konnte mir passieren, daß mir der Blutdruck in den Keller ging, mir im Bauch schlecht wurde und ich fast ohnmächtig wurde. Mein ältester Traum hat mit unmöglicher Flucht und sttadessen Unterwerfung zu tun.
Aber Biographie ist nicht alles. Aufs Allgemeine, also das GEMEIN Menschliche bezogen, ist dieses Auf-sich-selber-zurückgeworfen-sein ist, das was uns die Bibel so sagenhaft umfassend, elementar und gewaltig vor Augen stellt: die Ausgangssituation von Adam und Eva nach der Apfelaffäre und dem Rausschmiß.
Zu dem Zeitpunkt hatten die beiden sich wahrscheinlich nicht viel Freundliches zueinander zu sagen. Jede Seite für sich: du dein Blatt, ich mein Blatt vorgehalten, mit Glück Rücken an Rücken sitzend, eher wahrscheinlich aber Männerclo -Frauenclo. Das Kuschelige, Einverständige, Unschuldig Vertraute und unverbrochen Symbiotische des Gartens Eden ist -wie sagt man auf Neudeutsch: definitiv- weg.1 Von wegen: UNSER Vater, vielleicht erstmals: MEIN Gott! Mit ganz vielen Fragezeichen nach dem Ausrufezeichen.
Als psychologisch denkender Mensch ist diese überlieferte Situation für mich ein gültiges Bild für die komplementäre Art des Menschen zu sein, als Frau und als Mann in einer Welt, aber nicht selbstverständlich einvernehmlich sondern als Gegenüber mit allen denkbaren Entwicklungen, Be- und Vergegnungspotentialen, und genau deswegen als Grund für die Entfaltung des dritten Pols: der das Weibliche und Männliche übergreifenden umfassenden und kultivierenden Sozialgemeinschaft, in welchem „Wir“ möglich wird.
Aber das ist -wie gesagt- ein psychologisches Denken, allzu oft sogar ein psychopathologisches. Wie kommt das Spirituelle hinzu: Wie kommt es nach Unser Vater und mein Gott wieder vielleicht in einer spiraligen Aufwärtsentwicklung vorstellbaren Entfaltung von Unserem Glauben?
Daran arbeite ich mich seit langem schon -meist unbewußt- ab, und hier hoffe ich, lehrt mich die Pandemie-Zeit etwas Neues und Weiterführendes -gerade weil es jetzt verstellt ist und real, sinnfällig, haptisch nicht geht. Kann es sein, daß mir etwas zu fehlen beginnt? Stehe ich in meiner ach so individuierten, wortreichen und abgesicherten Existenz vor einer Tür, die -wenn ich es wage sie zu öffnen- mir ein windiges namen- und orientierungsloses Nichts vorstellt, das mich umgibt und von dem ich keine Ahnung habe, bisher auch nicht haben wollte, obwohl es den ganzen Ort meines Ich umgibt und also mein Du ist, mein entfremdetes Du und Wir?
Auf einmal ists mir da bei mir, in mir, mit mir allein unheimlich:
- Da fühle ich mich -auf gefährliche Art BRÜDERLICH?- dem Kain nahe bei seiner Rückkehr vom Feld;
- da beneide ich die junge, vielleicht noch minderjährige Maria nach ihrem völlig unerwarteten und vorstellbaren positiven Schwangerschaftsbefund, die alle Worte des Engels weiter in ihrem Herz bewegt und bewegend fühlt, eben weil der Befund von einem lebenden Wesen überbracht wird und nicht aus irgendeinem bunten Punkt auf einem plastifizierten biochemischen Teststreifen aufscheint;
- Ich finde mich wieder an der Seite des jungen Reichen, nachdem er seine Nadelöhr-Aufgabe zugesprochen bekommen hat und -im Kern erkannt und seiner selbst gewahr werdend- erschrocken weggeht;
- Ich falle hinein in die ganze Scham und Verzweiflung des Simon Petrus, nachdem er sein eigenes Leben vor dem Zugriff der Gesinnungspolizei mit der Verleugnung seiner tiefsten Sympathie und Hoffnung in Sicherheit gebracht hat;
- Ich spüre deutlich den Sog, der Judas zum Baum hinzieht, um aus der unerträglich sinnentleert gewordenen eigenen Existenz nur noch weg will, ein zernichtendes Ende jedem Weiterleben vorziehend. Ich verstehe ihn sehr gut und hoffe, hoffe, hoffe, daß Gott ihn aufgenommen hat. Vielleicht ist das sogar der tiefste und wichtigste Grund meines Glaubens.
Mord, Abtreibung, Verrat und Selbstverleugnung, Fanatismus und Selbstmord sind Optionen unserer Freiheit, aber sie sind kein Weg zum Heil, kein Beispiel für die Kinder, die Freunde, die Gemeinschaft all derer, die in derselben existentiellen Beklommenheit, Angst und Versuchung leben, die Abkürzung zu nehmen und dem Projekt Schöpfung in seiner ursprünglichen Schönheit die „definitive“ Abfuhr zu erteilen: „Ich bin der Geist, der stets verneint.“ Genau. Gut gesprochen, Goethe!
Aber wenn nicht so, wie denn dann, wie anders? Mein Pfarrer hört einfach nicht auf, freundlich mit mir zu sein.
***
Bruder Covid. Mein Bruder Covid. Mein Bruder Kain. Mein Bruder Judas. Mein Bruder Adolf. Meine Brüder -wie könnte ich unschuldig sein.
Bonhoeffer hat mit dem Bild des Schicksalsrades, zwischen dessen Speichen sich zu werfen, nicht nur eine Option sondern eine persönlich empfundene Christenpflicht sein könne, ein Dilemma benannt, und sich in diesem Dilemma für einen Brudermord entschieden. Denn auch Adolf Hitler ist eine Kreatur, eine menschliche sogar, wurde von Bruder Sonne und Schwester Mond beschienen. Mit allem was er verbrochen hat, untersteht auch er im Letzten dem Urteil Gottes und wäre nach heutigem, in Deutschland, in Italien, in der Konstitution der EU verankerten Menschenrecht nicht der Todesstrafe zu unterwerfen.
Die Banalität des Bösen, die Hanna Ahrend anläßlich des Eichmann-Prozesses in Israel nur beispielhaft skizziert hat, eignet -ich wage zu sagen: in unserer christlich-lutherischen Auffassung- allen Menschen, auch Bonhoeffer, jedem Diktator, jedem Menschen, mir und dir und uns als Gemeinde, als Gemeinschaft der Gläubigen, die erst nach dem Letzten Gericht eine Gemeinschaft der Heiligen werden kann: von Gott selber gereinigt, wenn wir an ihn glauben: Christi Blut -für uns vergossen. Das könnte für mich DER Grund des gemeinsamen Glaubens sein: die Gemeinschaft derer, die sich schuldig wissen und dazu bekennen, und deshalb auf Vergebung hoffen.
Ich fürchte, mit dem, was ich hier Gedanke für Gedanke in mir erforsche und Satz für Satz aufschreibe, bewege ich mich hinaus, aus dem, was ich in meinem Leben als getaufter Christ gehört, gelernt, mir zurecht gelegt habe. Ich weiß nicht, wie weit der common sense der ELKI oder der EKD so etwas öffentlich mittragen und verkünden würde, und da bin ich dann wieder bei meinem individuellen Glauben angelangt. Diese Spange ist eine weit gespannte. Aber was ist nicht weit gespannt in Corona-Zeiten. Beinahe ist es eine Schicksalsironie, daß ein Virus so einen schönen, verbindlichen, schmuckvollen und heiligmäßen Namen trägt. Diese Corona ist eine Dornenkrone der modernen Art.
Das Virus ist inkomplett. Um zu leben, besser: um zu überleben, eher als Art denn als einzelnes Wesen, braucht das Virus den Wirt. Es frißt ihn nicht eigentlich auf, es paart sich nur mit ihm. Daß der Wirt dann sterben kann, sozusagen an den Nebenwirkungen der Paarung, das weiß das Virus nicht. In dieser Hinsicht ist sein Tun unschuldig.
Was das Virus Mensch mit dem Wirt Erde macht, geschieht dagegen mit ständig wachsendem Bewußtsein von den Folgen, und wir, ja wir fressen schon die Erde auf und haben seit langem aufgehört, uns mit ihr zu paaren. So betrachtet sind wir unvergleichlich viel böser als das Virus. Covid könnte sich also sehr wohl empört dagegen verwehren, von uns als Bruder tituliert zu werden. Bruder Kain, Bruder Judas, Bruder Adolf als Ansprechpartner passen wesentlich besser.
Aber paßt UNS das? Und wenn nein, was werden wir von jetzt an tun? Wer die Pandemie körperlich-gesundheitlich überlebt hat, hat jetzt ihre wirtschaftlichen, politischen, ökologischen Folgen vor sich. Wir werden sehen, wie wenige von uns dann noch übrig bleiben werden.
Viren der Covid-Art mutieren mit für Menschen unmöglicher Schnelligkeit, um zu überleben. Die Mutation, die uns überleben lassen kann, ist nicht biologischer Art, wir sind physisch-biologisch nicht so gebaut wie Viren. Unsere Mutationsmöglichkeit liegt wohl im spirituellen Bereich: Ich nehme an, wir müssen UNSER Glaubensbekenntnis neu buchstabieren lernen und wieder beginnen, nach unserem Schöpfer zu fragen und zu suchen. Alles was ich von ihm gehört habe, sagt: Er wollte uns, er will uns und will uns seit dem Regenbogentag immer wieder neu retten -freilich sola fide.
***
„Sola fide“: Im Lateinischen handelt es sich grammatisch betrachtet um eine besondere Konstruktion, gewissermaßen eine Abkürzung, um etwas als ausschließlich zu kennzeichnen: „solus“ als Eigen-schaftswort bedeutet für sich genommen allein, einzig. In Verbindung mit einem Substantiv und in den Spezialfall der Lateiner: in den Ablativ, gesetzt, zeigt die Zwei-Wort-Kombination dann an, daß etwas nur so, einzig dadurch, ausschließlich mit Hilfe von diesem Ding, Gegenstand, Menschen, mit dieser Eigenschaft oder Bedingung funktioniert.
„Sola fide“ bedeutet mithin „einzig und allein durch den Glauben“ … und bezeichnet in der Gesamt-heit von Luthers Anschauungen und Lehren einen Kern seiner theologischen Kritik am Ablaßwesen und an dem ihm zugrundeliegenden Glaubens- und Gnadenverständnis seiner zeitgenössischen Mutterkirche.2
Mit der Fokussierung auf den Glauben als Beitrag, „Leistung“, „Disponiertheit“ des einzelnen Menschen, um vor Gott Gnade zu finden, fußt Luther vor allem auf Paulus3 und über diesen rückwirkend auf die Diskussion des Gerechtwerdens im Alten Testament, ob durch die Befolgung des Gesetzes und durch die daraus abgeleiteten Werke, die gewissermaßen Gnade eintragen, der einzelne Mensch gerecht werden kann oder nicht? Schon in diesen alten Quellen (Galaterbrief) wird das aber entschieden bestritten und stattdessen auf den Glauben als „sicheren“ Weg verwiesen.
Angesichts der menschen- und zeitübergreifenden Autorität, die DAS Gesetz in der mosaischen Religion und israelitischen Staatskultur besaß, ist dieser Zuspruch des Gerechtwerdens, des Heils und der Vergebung für die psychische Authentizität des einzelnen Menschen bemerkenswert: Der Bezug Gottes zu seinem Geschöpf und vice versa die Ansprache der einzelnen Kreatur an seinen Schöpfer ist an aller irdischen Sozietät vorbei und jedes dazwischenreden Dritter und fraglich berufener Instanzen in erster und letzter Linie unmittelbar, intim dialogisch (man denke an all die überlieferten Traumerlebnisse einzelner Menschen des AT), in heutigem Verständnis: individuell.
Sprung in Entstehungszeit und -ort der Reformation: Europa in der ersten Hälfte des 16. Jahr-hunderts: Mit in Jahrhunderten demagogischer Insistenz gewachsener geistiger und geistlicher Autorität und mit enormem, aus Drohungen, Angst, Scham- und Schuldgefühlen zusammengesetz-tem moralischen Druck hat sich die offizielle Kirche zwischen Volk/Laien/gewöhnlichen Menschen einerseits und Gott andererseits etabliert als von Christus selbst beauftragte und von Gott berufene Vermittlerinstanz zwischen den Menschen und Ihrem Herrn, und in den politischen Weltläufen beansprucht sie, moralische Instanz und Wegweiserin zu sein für den Umgang der Völker mitein-ander, über die Missionierung und Unterwerfung der Nicht Rechtgläubigen im Konkurrenzkampf der Religionen und über die freibeuterische Aneigung und Aufteilung der Schöpfung.
Im konkreten Alltagsleben wie in den politischen Weltläufen fungiert die Kirche auf allen gesellschaftlichen Ebenen als die Mautstation und Wegweiserin, die zu regeln und bemessen vermag, wie sündig jeder einzelne Mensch ist und auf welchem Weg, mit welcher Leistung, welchem Preis sie/er SEINE Gnade und Sünden-vergebung rück- und vorverdienen kann? Als Glaubensbeweis und Sühne in einem konnten und sollten die Aufbringungen der Gläubigen in die treuhänderische Obsorge der vermittelnden Kirchenleute übergehen; dafür erhielt der folgsame Gläubige -gern auch schriftlich- eine Bestätigung seines heilbringenden Glaubens und der bisher verdienten Begnadigungsgarantie.
Es ist leicht, sich vorzustellen, wie Luther als Kind des aufstrebenden Mittelstandes, als juristisch vorgebildeter Mensch, als schon lebenserfahrener, weltläufig gewordener Mann und Bürger seiner Zeit, außerdem als gut ausgebildeter Theologe mit eigener intimer Kenntnis des Ordenslebens und persönlicher Kenntnis der römisch-kurialen Verhältnisse, also als ein nicht nur für seine Zeit hochindividuierter Mensch das Kirchengebaren seiner Zeit erlebt hat? Und es erscheint als geradezu unausweichlich logisch, daß er die Parallele zu den Herrschaftsverhältnissen alttestamentarischer und neutestamentarischer Zeiten gesehen und den kategorischen spirituellen Einspruch und Widerspruch der Propheten und des Paulus erkannt und sich zu eigen gemacht hat.
Und als der im besten Sinne des Wortes dämonisch begnadete Sprachkünstler, der Luther wohl auch war, schmiedet er mit „sola fede“eine zugespitzte moderne Neuformulierung des vorbestehenden Appells: SOLA Fede: NUR durch den Glauben, durch den Glauben allein rettet sich das Menschenwesen zurück zu Gottes Gnade, in SEIN Heilsversprechen. Daß er gehofft hat, dennoch dadurch eine Kirchenspaltung und sozusagen eine Weltrevolution zu vermeiden, blieb eine Illusion und ist vielleicht nur eine „pia bugia“.
Ob Martin Luther damals den Nebensinn mitbedacht hat, den seine lateinische Überschrift bei der Übersetzung ins Deutsche entbirgt? Durch den Glauben allein. Durch den Glauben … allein. Der Mensch wird durch sein Glauben allein, frei von seiner indoktrinierenden Kirche, frei hin zu Gott, aber im existentiellen Leben auf Gedeih und Verderb auf sich allein gestellt im Bekennen und Leben dessen, woran sie/er glaubt und worauf ich im Leben und über den Lebensverlauf hinaus hoffe und vertraue. Glauben macht -aus psychologisch-diesseitiger Sicht- erst einmal und letztinstanzlich allein. Für mein Glauben: an wen, wofür, wie weitgehend, bin ich allein verantwortlich. Denn „Unser“ Glaube, unser Glauben als gemeinschaftlich unternommene Anstrengung und Aktion ist eine allzu trügerische weil allzu menschliche und diesseitig beeinflußte Hilfskonstruktion.
Nimmt man die anderen „solas“ hinzu, wird erkennbar, daß sich theologisch diese Einsamkeit wieder auflöst: sola scriptura, solus Christus, sola grazia,soli Deo gloria: Aus der diesseitigen Verlorenheit und Irrwegigkeit des einzelnen Menschen und der Menschheit als Ganzer wird der Blick eindeutig auf den Schöpfer und die spirituelle Bestimmung der Schöpfung ausgerichtet., Da wird ein Du ahnbar, ein Ursprung spürbar, und ein Vektor kommt in Sicht, in dem wieder alle einzelnen Wesen zusammenfinden können: die elementare Brüderlichkeit des Franziskus mit allem was geschaffen ist (auch mit Covid) ebenso wie die Brüderlichkeit auch mit den abwegigsten Menschen: mit Kain, Judas, Adolf Hitler und den menschenverachtenden Potentaten unserer Tage von Saddam Hussein bis zu den Wirtschaftskapitänen in ihren Börsenbüros und mit ihren Abholzmaschinerien.
Die Pandemie macht uns das deutlich:
- Wenn wir erkennen, daß die Kirche mehr ist als ein kuscheliger und verantwortungsmildernder Gemeinschaftsplatz zum frommen Talk, weil wir sie gar nicht mehr betreten dürfen, finden wir uns „im stillen Kämmerlein“ wieder und merken, wir müssen wieder selber, bei mir selbst, das eigene Glauben entdecken und üben,
- und wenn wir als Gerechte leben wollen, müssen wir uns mit allen Irrtums- und Vergegnungsmöglichkeiten auf die Mitmenschen dialogisch einlassen, inclusive der Bon-hoefferschen Option auf eigene, freigewählte Schuld.
In diesem Dilemma gibt es wohl nur eine Perspektive auf Heil: die einer -diesseitig bezogen- bedingungslosen spirituellen Orientierung. Wer nicht glauben lernen will, wird einfach sterben, mit nichts anderem „in der Hand“ als einer elektronisch deponierten Patientenverfügung. Ich habe -bei aller Mitarbeit bei „unserer“ Version- bisher nicht einmal das geschafft. Aber ich sitze und schreibe und denke an meinen guten Pfarrer. Vielleicht ist das meine Art, das Beten wieder zu lernen. Sola fide. Sola gratia.
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1 Für uns Heutige ist das überlieferte Bild zwar eindrucksvoll genug, aber es ist nur ein überliefertes Bild, nichtmal eine Erinnerung, für Städter kaum vorstellbar, vielleicht eine kindliche, bestenfalls eine archetypische Sehnsucht.
Das sagt über uns Heutige in unserer Gottesferne eigentlich alles: Der Mensch denkt, Gott lenkt, und dann gibt’s noch ein bißchen was nachzudefinieren. So macht sich das Geschöpf scheinbar zu eigen, was ihm geschieht oder was es sich unbedacht selber eingebrockt hat.
2 Theologisch und historisch sind es insgesamt fünf „solas“ die die reformatorischen Positionen des 16. Jahrhunderts gegen die offizielle Kirche markieren: Sola fide, sola scriptura, solus Christus, sola gratia, soli Deo gloria
3 Römer 3,28: „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
17.04.2020
Gute Nachricht online
Die Überschrift ist Programm. Eva Kaufmann und Martina de Rosi bieten auf ihrer neu geschaffenen website "gutenachricht.online" einen Raum des Nachdenkens und Wohlfühlens an, in dem sich buntes sammeln darf ...
Liebe Freundin, lieber Freund!
Der Frühling 2020 wollte sich im klimatisch milden Bozen südlich des Alpenhauptkamms gerade ankündigen, da hörte plötzlich das Pulsieren auf. Das Pulsieren der Stadt und das wuselnde Leben mit ihm. So plötzlich und dann auch noch so unerwartet allumfassend. Das war erstmals heftig. Denn es betraf das ganze Land und bald auch alle Nachbarn.
Ein Ereignis ohne Gleichen.
Ende März hatte ich das dringende Bedürfnis etwas „zu tun“, zu bewegen, zu initiieren… da kam mir eine Idee: denn fasziniert davon, was sich gerade in meiner Umgebung alles mobilisierte, digitalisierte und solidarisierte, sich einerseits verlagerte, andererseits auftat und selbst erschuf, all das empfand ich als Bereicherung. Ich wollte sammeln, sortieren,
abwägen und zur Verfügung zu stellen; dies waren good news, daran bestand für mich kein Zweifel.
Es gab da Inspirierendes, Konterkarierendes, Ergänzendes, Humorvolles, Sinnvolles und Philosophisches; all das mit der persönlichen Note meines ganz individuellen Erlebens verbunden, so würde ich es im wahrsten Sinne des Wortes animieren können.
Schnell war mir klar, dass diese sinnstiftende Idee Beschäftigung und Potential für mehr als nur einen Menschen bereit hielt und dass zwei Köpfe außerdem viel besser sind als einer und so kam es, dass ich im Austausch mit meiner lieben und geschätzten Freundin Martina von Tag eins an, eine wertvolle Mitstreiterin gewinnen konnte, die gleich in Resonanz mit mir ging. Es bedurfte nur weniger Worte und so setzten wir uns unmittelbar an die Verwirklichung - knappe 2 Stunden später stand das Design und am Reissbrett hingen unzählige unserer potentiellen „good news".
Die Themen und Gedanken „umflügelten" uns… 2 intensive Wochen später sind wir endlich soweit und freuen uns, denn wir sind ONLINE!
www.gutenachricht.online
Heute möchten wir dich einladen Teil dessen zu werden was uns bewegt; dich umzusehen, zu schmökern, zu lauschen, zu entdecken und zu lesen…
Vieles ist noch nicht 100 Prozent, aber wir wollten lieber online gehen, als in Perfektion dann viel zu spät. Schreibt uns, wenn ihr Fehler findet, aber noch mehr freuen wir uns, wenn euch Themen inspirieren, ihr Spannendes entdeckt oder einfach einen digitalen Wohlfühl-Ort für Euch finden konntet, zu dem ihr gerne kommt.
Wir freuen uns, wenn ihr Lust habt unsere Geschichte weiter zu erzählen und mit uns zu wachsen!
In diesem Sinne, alles Liebe und viel Freude.
Eva und Martina